Samstag, 29. Mai 2021

Ein (fast) vergessenes Jubiläum ...

oder: Das Schweigen der Kirchen

Der Artikel wurde zuerst im Hannoverschen Pfarrvereinsblatt 2/21 Sommer 2021, S. 17ff veröffentlicht.

Zugegeben, auch ich hatte jetzt aktuell den 18. April 1521 nicht im Blick, weil ich das Referat über Luthers Auftritt vor dem Reichstag in Worms erst im Herbst bei der Kirchenkreiskonferenz vortragen werde. Allerdings hatte ich bis zu einer kleinen Zeitungsnotiz am Samstag vor dem Jahrestag auch nicht einen Hinweis von kirchenleitender Stelle vernommen. Googelt man das Ereignis zusammen mit dem Suchbegriff “Hannoversche Landeskirche” findet man aktuell lediglich den Hinweis, dass Hans Christian Brandy an Luthers Auftritt in Worms vor Kaiser Karl V erinnert. Warum ist dieses so entscheidende Ereignis lutherischer Geschichte derart untergegangen?

Luther auf dem Reichstag zu Worms - 18. April 1521

Dabei bieten Luthers abschließenden Worte genügend Ansatzpunkte für eine aktuelle Diskussion - in der Kirche, aber auch in der Gesellschaft. “… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!” (Dt. Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II, n. 80, S. 581–582; zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_auf_dem_Reichstag_zu_Worms_1521#cite_note-55)

eigenes Foto - aufgenommen im Lutherhaus in Wittenberg

Die Stichworte, die Luther damals in die Debatte einbrachte - “Zeugnis der Schrift”, “klare Vernunftgründe” - konnte und wollte man offensichtlich nicht hören, man verweigerte das Gespräch. Karl V berief sich in seiner Antwort, auch im Sinn der damaligen katholischen Kirche, auf die 1.500-jährige Tradition und die “Tatsache”, dass ein Einzelner irren müsse, wenn er gegen die “ganze” Kirche stehe. 

“Zeugnis der Schrift” und “klare Vernunftgründe”

“Zeugnis der Schrift” und “klare Vernunftgründe” sind für mich die beiden Begriffe, die heute fruchtbar gemacht werden können. In der gegenwärtigen Pandemie kommt m.E. beides zu kurz. Da ist für mich zunächst das, was ich im Untertitel das “Schweigen der Kirche” genannt habe. Horst Gorski spricht zwar im aktuellen Pfarrerblatt (04/2021) davon, dass es zu Beginn der Pandemie “eine ungeheuer zahlreiche Produktion von Beiträgen” gegeben habe, und leitende Geistliche hätten “sich in Predigten, Pastoralbriefen, Interviews und Zeitungsartikeln” geäußert, allerdings habe zumindest ich diese Äußerungen nicht wahrgenommen. Anderen (beispielsweise Hartmut Löwe; vgl. Gorski) ging es offensichtlich aber auch so. Die “Fülle” der Beiträge hat wohl doch nur ein „Rauschen“ verursacht (Gorski), das dann nicht über die Medien in die Öffentlichkeit vordrang.

Corona - (k)eine Strafe Gottes

Wahrgenommen habe ich, dass es heftigen Streit gab, ob die Coronapandemie eine “Strafe Gottes” sei. In den etablierten Großkirchen war man sich schnell einig, dass dies keine angemessene Betrachtung sei. Allerdings blieb man eine alternative Sicht schuldig. 

Michael Beintker hat recht, wenn er anmerkt, dass weder die eine noch die andere Seite den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen belegen könnte. “Man müsste ein Prophet sein, um bei der Antwort auf diese Frage in der einen oder anderen Richtung das Richtige zu treffen.” (Pfarrerblatt 03/2021) Aber warum wird beispielsweise nicht an die prophetische Botschaft des Ersten Testaments angeknüpft. Ich nenne nur einige Sätze, die ich in den letzten Wochen in meinen Predigten zitierte: “Ich habe Lust an der Liebe ..., an der Erkenntnis Gottes …” (Hosea 6,6) - “Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen ... Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.” (Amos 5,21-24) - “Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen. Lasst ab vom Bösen, lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!” (Jesaja 1,16f) - “Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.” (Micha 6,8)

Corona - Ruf Gottes zur Umkehr

Die biblische Forderung nach einer Umkehr findet sich auch bei Jesus: “Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!” (Mt 4,17) Dieser Ruf steht am Anfang seiner Wirksamkeit. Als später Pilger aus Galiläa von römischen Soldaten im Tempel ermordet oder Arbeiter von einem umstürzenden Turm in Siloah erschlagen werden, kommt der Begriff “Sünde” ins Spiel. Jesus weist diese Betrachtung zurück, ruft seine Zuhörer aber zur Umkehr, zur Buße auf: “... wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen.” (Lk 13,5)

“Rede nur, wenn du gefragt wirst; aber lebe so, dass du gefragt wirst.” (Paul Claudel)

Gewiss, damit ist noch kein konkretes Handeln beschrieben, das sich gesellschaftspolitisch umsetzen ließe. Aber das wäre wohl auch ein Denkfehler. Kirche ist kein politischer Player! Hier müsste man mit Simon Bellmann (Universale Verkündigung oder partikulare Kommunikation? Pfarrerblatt 04/2021) kritisch weiterdenken. Kirche kann allerdings Kriterien für politisches Handeln nennen. Und die prophetischen Begriffe Recht, Gerechtigkeit, Gutes tun, Unterdrückten helfen, Liebe üben, diese Begriffe sind auch heute noch verständlich. Wenn Kirche dann im linksliberalen Spektrum verortet wird, dann hat das nichts mit den “Denkschriften der EKD seit den 1990er Jahren” zu tun (Simon Bellmann Pfarrerblatt 04/2021). Vielmehr legt es die christliche Botschaft nahe, sich dem Nächsten, dem Schwachen zuzuwenden. Und Wohlstand und Reichtum sind in der biblischen Betrachtung immer Gaben Gottes, die auch zum Wohle anderer eingesetzt werden.

Wenn die biblische Begrifflichkeit in politische Handeln umgemünzt werden soll, dann sind keine Sonntagsreden erforderlich, sondern konkretes Handeln. “Rede nur, wenn du gefragt wirst; aber lebe so, dass du gefragt wirst.” Dieser Paul Claudel (1868 bis 1955) zugeschriebene Satz hat von seiner Aussagekraft und Aktualität auch für kirchliche Akteure nichts verloren. 

In der aktuellen Situation hätte das beispielsweise heißen können, dass die Kirchen zusammen mit den angeschlossenen Werken sich an die Spitze einer Testkampagne gesetzt und kostenlose Coronatests für alle Mitarbeiter angeboten hätte, lange bevor dies von der Politik vorgeschrieben wurde. Und man kann auch nicht auf der einen Seite beklagen, dass Menschen ohne seelsorgerlichen Beistand in den Altenheimen sterben, dann aber dem Anliegen der Pfarrvertretung, Pfarrpersonen als Berufsgruppe in die Priorisierung mit einzubeziehen, mit ablehnender Skepsis begegnen, so dass sich in der Folge kaum jemand noch traut, dieses auch in den Augen Außenstehender berechtigte Anliegen vorzutragen. Die Kirchen könnten “punkten” mit Arbeitsbedingungen in den sozialen Diensten, die über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehen: Entlohnung der Pflegekräfte, die die Belastung durch die Arbeit in Rechnung stellt; Zeit für die zu Pflegenden; Engagement bei den Kitas, damit dort gute Bildungsarbeit geleistet werden kann. An der Basis in den Kirchengemeinden und darüber hinaus in den Kirchenkreisen könnte das kollegiale Miteinander gefördert werden. Hierarchische (Verwaltungs-)Strukturen sind kontraproduktiv. Es lassen sich mühelos weitere Felder finden, auf denen die Kirchen im gesellschaftlichen Kontext als verantwortungsbewusste Partner wahrgenommen werden können. 

Wenn sich die evangelische Kirche weiterhin dem lutherischen Erbe verpflichtet fühlt, dann hat sie die Aufgabe, das “Zeugnis der Schrift” und “klare Vernunftgründe” zusammenzuführen. Wenn die biblische Begrifflichkeit im Rahmen der Kirche mit einem angemessenen Handeln korrespondiert, dann können vielleicht auch wieder Intellektuelle und Zweifler angesprochen werden (gegen Ernst Vielhaber, der von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im antiken Weltbild spricht; Pfarrerblatt 03/2021).

Auch eine verpasste Chance für die Ökumene

Die Ereignisse des Wormser Reichstags vor 500 Jahren und Entwicklung in den darauffolgenden Jahren haben gezeigt, dass die Verweigerung des theologischen Gespräches, des Disputes in die Spaltung führte. Was hätten sich für Chancen ergeben können, wenn man in Worms miteinander geredet, diskutiert, gerungen hätte? Die seit 2017 vielerorts gelebte und praktizierte Ökumene hätte durchaus das Fundament bieten können, 500 Jahre später sich gemeinsam mit den katholischen Geschwistern an Worms zu erinnern und mit gesellschaftlichen Kräftens ins Gespräch zu kommen. Keine Kirche wird sich heute dem “Zeugnis der Schrift” und “klaren Vernunftgründen” entgegenstellen. Schade, diese Chance wurde verpasst!

vgl. auch meine Predigt vom Sonntag Jubilate (25. April 2021)

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